Blinde sehen mit den Ohren, Taube hören mit den Augen

Unsere Sinne scheinen voneinander getrennt zu sein. Beim Wandern können wir die Landschaft nur sehen, das Zirpen der Grillen nur hören und den Geruch des Heus nur riechen. Und tatsächlich: Zunächst wird jeder Sinneseindruck ganz für sich ausgewertet – in der Sehrinde am hinteren Ende des Grosshirns, in der Hörrinde auf dem Schläfenlappen und im Riechhirn direkt über der Nase. Doch dann werden Landschaft, Geräusche und Geruch zu einem Gesamteindruck verbunden. Und wenn wir uns daran erinnern, dann sehen wir nicht nur die Landschaft, sondern meinen auch, das Zirpen der Grillen zu hören.

«Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen», sagte einst Helen Keller, eine berühmte taublinde amerikanische Schriftstellerin. Wenn wir Stimmen geliebter Menschen hören, wenn wir ein Lied hören, das an dem Abend gespielt wurde, als wir unseren Partner kennengelernt haben, wenn unser Waldspaziergang vom Vogelzwitschern begleitet wird, weckt das in uns starke Emotionen. Gehen immer mehr vertraute Klänge verloren, wirkt sich das auch auf die persönliche Lebensqualität aus. Zwar gilt der Mensch als ein «Augentier», doch akustische Informationen sind oft verlässlicher als optische. Wenn man blind ist oder eine wesentliche Sehbehinderung hat, sind Gehör und Tastsinn die wichtigsten Informationsquellen über unsere Umgebung. Das Gehör warnt uns oft vor herannahenden Gefahren, noch bevor wir sie sehen können, beispielsweise im Strassenverkehr. Das war schon vor Jahrtausenden so, als unsere Ohren uns im Schlaf vor Raubtieren gewarnt haben. Und sogar beim Essen spielt das Gehör eine wichtige Rolle – Kartoffelchips und Cornflakes schmecken viel besser, wenn sie beim Draufbeissen so richtig knuspern.

Blinde Menschen haben oft ein besonders gutes Hörvermögen.
Dr. Alexandra Kupferberg

Wenn der Sehsinn beeinträchtigt ist, muss man sich mehr auf das Gehörte konzentrieren. Blinde können besser hören als Normalsehende, denn sie trainieren ihr Gehör ständig. Und ihr Gehör entwickelt faszinierende Fähigkeiten. Wir wissen von Walen und Fledermäusen, dass sie ihr Gehör zur Orientierung nutzen. Doch genauso wie diese Tiere nutzen manche Blinde eine Form von Echolot, indem sie leise mit der Zunge schnalzen und das Reflektieren des Geräusches registrieren. Es gelingt ihnen sogar, Bäume von Autos zu unterscheiden, da verschiedene Formen und Grössen der Gegenstände verschiedene Echos zurückwerfen. So können sie sogar Fahrrad fahren.

Was passiert im Gehirn, wenn die Ohren die Aufgaben der Augen übernehmen?
Arbeiten die Hörbereiche im Gehirn von Blinden besser, weil sie mehr gefordert werden als die Sehbereiche? Oder wird die «nutzlos» gewordene Sehrinde nun für die Hörverarbeitung beansprucht? Beides trifft zu. Einerseits arbeiten die Hörbereiche des Gehirns bei blinden Menschen schneller und präziser. Andererseits werden die Gehirnbereiche, die bei den Sehenden die visuellen Sinnes- eindrücke auswerten, für das Hören mitgenutzt. Durch die ständige Übung entwickeln diese Hirnregionen erweiterte Fähigkeiten. Blinde können meistens Sprachnuancen und Emotionen besser wahrnehmen als Hörende, weshalb sie bei der Audiodeskription von Filmen und TV-Sendungen die Handlung genauso gut mitverfolgen können wie Sehende.

Das Hören wird also durch Training geschult. Und es kann dementsprechend auch verlernt werden. Das passiert bei- spielsweise, wenn man die Hörfähigkeit verliert. Dann wird das Sehen wichtiger und die Hörrinde wird auch fürs Sehen mitgenutzt. Dieser Vorgang nennt sich «kreuzmodale Reorganisation bzw. Plastizität». Um diesem Prozess entgegenzuwirken, sollte man so schnell wie möglich dafür sorgen, dass die Hörrinde wieder mit akustischen Signalen aktiviert wird. Hörgeräte und Gehörtraining zusammen sorgen für das beste Ergebnis. Denn mit den Hörgeräten werden die Hörbereiche wieder gefordert und es findet eine Art «umgekehrte» Reorganisation statt, wodurch jeder Gehirnbereich wieder das tut, was seine ursprüngliche Aufgabe war.

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Ein Gedanke zu „Blinde sehen mit den Ohren, Taube hören mit den Augen

  • Januar 19, 2020 um 2:36 pm
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    Kann ich ein solches Training mal ausprobieren? Wenn ja, wo? Danke

    Antwort

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